Mono no aware. Ein poetischer Blick auf die Vergänglichkeit

 

Jürgen Schabel fotografierte das entvölkerte Fukushima

Aufgegebene Orte, menschenleere Kulissen, die von der Natur zurückerobert werden. Das sind für den Nürnberger Fotografen Jürgen Schabel keine „Lost Places“, sondern die Schnittstellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Im Interview erzählt er von seinen fotografischen Erlebnissen in der Präfektur Fukushima sowie im Hachijo Royal Hotel und von seiner Suche nach dem, was bleibt. [von Susanne Wagner]

Anlässlich des 10. Jahrestages der atomaren Katastrophe im japanischen Fukushima, realisierte Jürgen Schabel unter dem Titel „Mono no aware“ eine Ausstellung seiner Japan-Fotografien aus 2019 und 2020. „Mono no aware“ bedeutet nach wörtlicher Übersetzung so viel wie „Traurigkeit der Dinge“. Aber der japanische Begriff ist vielschichtiger und meint auch: Freude über die flüchtige Schönheit des Lebens – bei gleichzeitiger Akzeptanz der Zerbrechlichkeit und des Vergehens aller Dinge. Symbolisch dafür steht auch die Feier der sehr kurzen, aber opulenten japanische Kirschblüte (Hanami).

 
Im Video-Call unterhielt ich mich mit Jürgen Schabel über seine Erlebnisse in Japan, über seinen fotografischen Ansatz und über unsere gemeinsame Begeisterung für die japanischen Kultur. Vielen Dank für das Interview!

Im Video-Call unterhielt ich mich mit Jürgen Schabel über seine Erlebnisse in Japan, über seinen fotografischen Ansatz und über unsere gemeinsame Begeisterung für die japanischen Kultur. Vielen Dank für das Interview!


Wie ist das Projekt entstanden und was hat Sie an den „Lost Places“ in Japan interessiert?

Jürgen Schabel: Ich finde die japanische Kultur absolut faszinierend. Meine Tochter studiert in Heidelberg Japanistik und Ostasiatische Kunstgeschichte. 2019 verbrachte sie ein Jahr an der Universität in Tokyo, wo ich sie zu Weihnachten besucht habe.

Einen Teil meines Fotoprojekts, das alte verlassene Hachijo Royal Hotel auf der Pazifikinsel Hachijo Jima, hat meine Tochter für mich aufgespürt. Wir sind dann beide für zwei Tage dorthin geflogen – die Insel liegt ca. 300 km entfernt von Tokyo. Dort hatte ich auch die Idee zur Fukushima-Fotoserie. Dafür reiste ich ein zweites Mal im April/Mai nach Japan.

Mein Thema ist nicht ein vordergründiges Verständnis von „Lost Places“, wo oft der Schaueffekt des Verfalls im Fokus steht. Mich interessieren Orte, die eine bestimmte Geschichte in sich tragen und ihre ursprüngliche Funktion verloren haben. Und der Umgang in einem gewissen zeitlichen Abstand damit. Die Umdeutung, die diese Orte im Laufe der Zeit erfahren – das ist der Punkt auf den ich reflektiere. Es sind diese Spuren von Leben, denen ich folge. Mein Interesse gilt dabei nicht dem konkreten Ort – sei es das Hachijo Royal Hotel oder Fukushima, oder was auch immer. Ich spüre den Geschichten nach, die unter der Oberfläche vielleicht verborgen liegen.

„Ein verfallenes Gebäude bei uns, das kurz und klein geschlagen ist, hat für mich keinen narrativen Charakter mehr. Das ist vielleicht optisch interessant, aber kein Bild wie ich es suche. Ich möchte ein Gefühl dafür bekommen: Wie war das Leben hier?“ 


Seit rund 30 Jahren steht das Hachijo Royal Hotel auf der japanischen Insel Hachijo Jima leer.

Seit rund 30 Jahren steht das Hachijo Royal Hotel auf der japanischen Insel Hachijo Jima leer.

Was war das Besondere an Ihrem ersten Fotoprojekt in Japan, dem Hachijo Royal Hotel?

J.S.: Hier muss ich ein bisschen ausholen, damit Sie das richtig einordnen können. Bis in die 60er Jahre hinein war es für Japaner praktisch unmöglich, einen Reisepass zu bekommen. Die Folge war natürlich, dass der Tourismus im eigenen Land forciert wurde.

In der Mitte der ehemaligen Ferieninsel Hachijo Jima ragt ein Vulkankegel hoch und es gibt einen kleinen Flughafen, ein paar heiße Quellen und dieses Hotel. Ansonsten ist da nichts. Vom einen zum anderen Ende der Insel sind wir in einer guten Stunde gelaufen.

In seiner Blütezeit war das Hachijo Royal Hotel mit 800 Zimmern das größte und luxuriöste Hotel des Landes. An den französischen Barock angelehnte Architektur, die Zimmer im klassischen japanischen Stil. Der Urlaubstag am Strand und der Abend im Hotel war sicher eine großartige Erfahrung.

Nachdem in Japan das Reisen frei gegeben wurde, ist der Tourismus auf dieser Insel komplett eingebrochen. Dieses Hotel steht jetzt über 30 Jahre leer. Das Spannende daran ist, dass ein Großteil der Inneneinrichtung zurückgelassen wurde. Und im Gegensatz zu uns: Wenn in Japan „Betreten verboten“ steht, dann wird das auch respektiert. Es wird nicht randaliert, die Wände nicht vollgesprüht. In diesem ganzen Riesengebäude war keine einzige Fensterscheibe eingeschlagen. Sogar der Staub blieb an vielen Orten unberührt.

„Das Interessante am Hachijo Royal Hotel war, dass alles in einem so geordneten Zustand war, dass unmittelbar Gedanken in Bewegung gesetzt wurden: Wie war das früher? – Es sah teilweise wirklich so aus, als wären die Menschen erst vor kurzem gegangen.“  

Das Hachijo Royal Hotel kann man schon aus der Entfernung sehen, weil es erhöht steht. Je näher man kommt, umso versteckter liegt es hinter hochgewachsener Vegetation. Ein einzelnes Fenster stand offen, durch das wir ins Hotel gelangt sind.

Die Menschen, die heute auf Hajijo Jima leben, haben, denke ich, gar keine Beziehung zum Hotel. Ich schätze, dass 2/3 der Bevölkerung am Montagmorgen nach Tokyo zur Arbeit fliegt und am Freitagabend wiederkommt. Wir hatten enorme Schwierigkeiten, abends etwas zu Essen zu bekommen.


Ein verlassenes Klassenzimmer in Namie, Präfektur Fukushima.

Ein verlassenes Klassenzimmer in Namie, Präfektur Fukushima.

Wie hat sich die Arbeit in der Präfektur Fukushima gestaltet?

J.S.: Das Atomkraftwerk selbst liegt ca. 60 km östlich von der Stadt Fukushima, die damals nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es gab das Erdbeben, das den Tsunami verursacht hat, der über die Küste gerollt ist. Neben dem Atomkraftwerk wurden auch die küstennahen Städte verwüstet. Die austretende radioaktive Wolke, hat dann dazu geführt, dass man die Gegend evakuiert hat.

Zu dem Zeitpunkt als ich fotografiert habe, hat mich die Geschichte dahinter auch sehr berührt. Dass diese Bilder jetzt so einen großen Raum in der Ausstellung einnehmen, ist natürlich auch dem geschuldet, dass sich der Vorfall in Fukushima im März 2021 zum zehnten Mal gejährt hat.

In der Region Fukushima gibt es eine explizite Sperrzone, die nicht zugänglich und auch bewacht ist. Dann gibt es die Evakuierungszone und die ist theoretisch für jeden jederzeit zugänglich. Praktisch ist es so, dass es nicht so gerne gesehen wird, wenn sich dort Gaijins – Langnasen – herumtreiben. Aber es ist nicht verboten.

Fotografiert habe ich in drei kleinen, küstennahen Ortschaften: Namie, Futaba und Tomioka hatten ehemals je etwa 20.000 Einwohner. Auch in der offiziell zugänglichen Evakuierungszone waren oft Straßen gesperrt. Meistens leiteten ältere Männer mit Sicherheitsweste und Leuchtstab die Autos um. Ansonsten konnte ich mich frei bewegen.

Ich habe in der Stadt Fukushima gewohnt, habe mich frühmorgens mit Proviant und Wasser versorgt, bin losgefahren und habe den ganzen Tag fotografiert. Am zweiten Tag hat mich abends die Polizei aufgegriffen und ich musste die Nacht auf der Polizeistation verbringen – aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen. Der Abend lief anders als geplant, aber ich wurde außerordentlich höflich behandelt. Wie sehr viele Menschen in Japan, sprach auch hier niemand Englisch und ich musste bis zum Morgen auf die Dolmetscherin warten. Sie hat mich vier Stunden lang ausgefragt. Wobei es nur kurz darum ging, wofür ich fotografiere und wie kritisch ich das hier alles sehe. Dann schwenkte sie ganz schnell um zu Fragen, die sie viel mehr zu interessieren schienen. Wie ist das Leben in Deutschland? Wie ist das Schulsystem strukturiert? Wie sind Wohngefüge und Einkommensverhältnisse?

„Auf einem der Felder habe ich eine wunderschöne Tonfigur gefunden. Da wurde scheinbar beim Abtragen des Erdreichs auch ein Teil der eigenen Geschichte ausgegraben.“

Was mich am meisten vor Ort beeindruckt hat ist, dass ich das Gefühl hatte, mich in einer riesigen Kulisse zu bewegen. Es machte auf mich den Eindruck, als könnten die Häuser ganz leicht nach hinten umfallen, wenn ich sie berühren würde. Was durch die Verlassenheit und Menschenleere noch unterstützt wurde. Gespenstisch war, dass in dieser Region das verseuchte Erdreich großflächig abgetragen worden ist. In gigantischen Deponien lagern unendlich viele schwarze Säcke – wie Müllsäcke, nur viel größer. Das hat zur Folge, dass die Erdflächen in den Städten fast etwas Jungfräuliches haben, also alles ganz frisch aussieht, als wäre es nagelneu.


Wie definieren Sie das Thema Storytelling als Fotograf?

J.S.: Natürlich muss man für das Storytelling über das Thema hinaus eine Grundidee haben. Aber die Verästelungen der Geschichte, ergeben sich oft erst durch die Begegnung mit den einzelnen Menschen beim Fotografieren. Weil jeder seine Sicht dieser Geschichte mit einbringt. Es ist wie eine Reise, bei der das Ziel grob feststeht, aber die Route kann sich jederzeit ändern.

„Ich bemühe mich bei meinen Fotografien nicht im Geringsten um Objektivität. Das was ich erzähle, kann ja nur eine Essenz sein aus meiner Geschichte, aus meinem Leben.“

Für mich ist es eher ungewöhnlich, dass in meinen Bildserien überhaupt keine Menschen auftauchen. Storytelling mit Menschen fällt mir leichter, weil die Bälle von alleine hin und her fliegen. Ich erfahre ständig etwas Neues. Die Situation entwickelt sich weiter – manchmal vielleicht auch in eine Richtung, die ich vorher nicht auf dem Schirm hatte.

Im Hachijo Royal Hotel war es für mich wie ein Flanieren. Diese Reise, immer tiefer ins Thema, hat ganz stark mit mir und meiner eigenen Geschichte zu tun. Im Grunde ist es so, dass ich mit meinen Bildern eine Tür aufstoße und der Betrachter kann dahinter seine eigene spezifische Geschichte dieses Ortes finden. Ich versuche, nicht meine Sicht der Dinge aufzudrängen.


Künstlergespräch mit Jürgen Schabel zur Ausstellung „Mono no aware“ im Kunstverein Kohlenhof Nürnberg


Ab welchem Punkt des Storytellings denken Sie an Ihr Publikum?

J.S.: Beim Fotografieren denke ich fast überhaupt nicht an die Betrachter. Ich mache die Bilder für mich selbst. Außer ich finde ein Motiv, wo klar ist, dass es Aufmerksamkeit wecken wird, vielleicht sehr emotional ist. Dann nehme ich das Bild mit.

Wenn ich eine Ausstellung oder ein Buch kuratiere, berücksichtige ich den Betrachter natürlich von Anfang an. Ich erzähle Geschichten durch die gezielte Abfolge von Bildmotiven, stelle Resonanzen her, bringe Dinge in Beziehung.

Manchmal ist ein Bild aus einer Serie, das alleine für mich nicht den ganz großen Stellenwert hat, an einer Stelle absolut passend. Weil es eine Verbindung schafft oder weil es mit dem Bild, das daneben hängt, eine neue Geschichte erzählt und so weiter. Ein aussagekräftiger Ausstellungstitel war mir hier auch sehr wichtig.

„Mono no aware ist eine japanische Geisteshaltung, die auch im Hachijo Royal Hotel zum tragen kommt. Dass man es zulassen kann, dass alles vergänglich ist, dass die Schönheit vergeht, dass im Vergehen eine Schönheit liegt und dass es trotzdem sein darf.“

Sagen wir, ich würde nächstes Jahr nochmal nach Fukushima reisen, dann würde ich fotografisch anders vorgehen. Weil ich vielleicht gezielt Ergänzungen suche oder schon eine grobe Richtung habe, in die das laufen soll.

Es ist für mich ein großer Unterschied, vorab zu wissen, ob ich an einen Ort bald wiederkomme oder ob es eine einmalige Sache ist. Was empfinde ich als wichtig genug, dass ich es aufnehme?

Speziell bei den Bildern aus der Präfektur Fukushima, hatte ich beim Fotografieren das Gefühl, dass es nicht reichen würde. Im Nachhinein, mit einem gewissen Abstand und im Zuge der Ausstellung betrachtet, fand ich sie plötzlich großartig. Jetzt sehe ich darin andere Bilder und Zusammenhänge.


Wie lief die Ausstellung in Corona-Zeiten?

J.S.: Schade ist, dass die Ausstellung im Kunstverein Kohlenhof Nürnberg nur zur Eröffnung „echtes“ Publikum empfangen konnte. Aber Sie können „Mono no aware“ immer noch online in einem virtuellen Rundgang ansehen. Und vielleicht gibt es ja noch einmal eine Möglichkeit, die Ausstellung zu wiederholen.

Als letztes Puzzleteil wurde eine Video-Präsentation meiner Ausstellung mit einem ganz wunderbar gesprochenen Text in japanischer Sprache veröffentlicht. Ein – wie ich finde – kleines poetisches Gesamtkunstwerk:


Info + Kontakt

Jürgen Schabel (geboren 1962 in Zeiden, Siebenbürgen/Rumänien) lebt in Bamberg. Er arbeitet in seinem Atelier in Nürnberg, das in einer ehemaligen Pinselfabrik Heimat für zwei Galerien und Künstler aus den unterschiedlichsten Bereichen bietet.

Seit über 30 Jahren ist Jürgen Schabel Profi-Fotograf. Er startete als Partner in einem großen Studio für Werbefotografie. Danach widmete er sich People-, Editorial-, Architektur- und Interieurfotografie für Magazine, Verlage, Theater und Universitäten. Außerdem fotografiert er die Werke zahlreicher Künstler für Kataloge und Ausstellungsdokumentationen. Seit 6 Jahren unterrichtet Jürgen Schabel als Dozent Fotografie an der Fachoberschule in Nürnberg.

Einen großen Teil seines Portfolios macht inzwischen künstlerische Arbeit aus u.a. für Bücher, Lichtinstallationen, Ausstellungen.  

Jürgen Schabel
Fotodesign
Atelier- und Galeriehaus
Leopoldstraße 71
90439 Nürnberg
Telefon 09 11 - 33 33 88
lichtblick@juergenschabel.de
Derzeit bietet Jürgen Schabel keinen eigenen Webauftritt an, weil er seine neue Website gerade erstellt.

Infos zur Ausstellung „Mono no aware“: www.atelier-galeriehaus.de

Ausstellung: Im Kunstverein Kronach konnten Sie vom 20. Juni bis 25. Juli 2021 Bilder aus Jürgen Schabels Japan-Serien in der Gemeinschafts-Ausstellung „Art Connect“ sehen.

 

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