Fotoprojekt von Leonard Müller: Was wäre, wenn …

 
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Storytelling mit Mut zur Lücke

Der Fotograf und Videojournalist Leonard Müller fragt: „Was wäre, wenn ich dir 5 Euro in die Hand drücke, von denen du dir kaufen kannst, was immer du möchtest? Und was erzählt das über dich?“ [Von Susanne Wagner]

Das Projekt habe ich auf der Crowdfunding-Plattform Startnext entdeckt und die 5-Euro-Idee fand ich gleich spannend. Ich hatte mir ein kleines Hannoversches Gesellschaftsportrait mit vielen Fotos und ausführlichen Geschichten erwartet. Doch das Buch von Leonard Müller überraschte mich mit ganz wenig Text, interessant inszenierten Bildern und viel Weißraum. Wo waren die angekündigten Lebensgeschichten der Menschen? Habe ich etwas übersehen? Ich möchte das künstlerische Konzept gerne verstehen und spreche mit Leonard Müller über sein Buch „Was wäre, wenn …“.


[Ich habe mit Leonard ein langes Gespräch geführt und das Interview sinngemäß zusammengefasst.]

Wie und wann ist die Idee zu Deinem Projekt entstanden?

Leonard Müller: Mein Plan war, 15 Obdachlose zu treffen, jedem fünf Euro in die Hand zu drücken und dann zu sehen, was sie sich davon kaufen würden. Die ersten sechs Obdachlosen haben sich aber alle das gleiche gekauft. Um mehr Variation in mein Projekt zu bekommen, habe ich zusätzlich zu den Wohnungslosen möglichst verschiedene Leute angesprochen, auch mit gegensätzlichem Herkommen – Wohnungslose, Wohlhabende, Leute mit Behinderung, Kinder, Studierende, ein Politiker ist auch dabei.

Früher bin ich an Obdachlosen einfach vorbeigelaufen. Damals fand ich es noch etwas unangenehm, wenn sie mich um Geld gebeten haben. Aber ich habe mehr und mehr darüber nachgedacht, was sich einer tatsächlich gekauft hätte, wenn ich ihm Geld gegeben hätte. Und, ob es mir nicht egal sein kann, was er sich von dem Geld kauft. Das alles hat mich nicht mehr losgelassen und ich habe die Grundidee in mein Notizbuch geschrieben. Etwa ein Jahr später habe ich die Idee wieder aufgegriffen. Die Fotos entstanden dann in einem Zeitraum von zwei Jahren.



Deine Idee hat mich sehr begeistert. Aber ohne Kontext, würde für mich das Buch alleine die Idee nicht transportieren. Spielt die tatsächliche Biografie im Storytelling für Dich gar keine Rolle?

L.M.: Mir war wichtig, dass der Leser seine ganz eigene Perspektive einnehmen kann. Deshalb habe ich gezielt mit wenig Information und Text gearbeitet. Die Bilder sollen auch nicht dokumentieren, sondern nur einen kurzen Blick in das Leben der Porträtierten ermöglichen. Das Layout ist bewusst mit viel Weißraum gestaltet, damit sich die Gedanken der Leser entwickeln können. Ich will mit den verschiedenen Bildformaten und den Textfragmenten den Leser zum freien Assoziieren anregen.

Aber ganz alleine lasse ich den Leser natürlich nicht. Zur Einstimmung auf das Thema liegt noch vor der ersten Seite im Buch eine Postkarte mit einem eigens von Alexander Isakov designten 5-Euro-Schein bei. Darauf steht: „Was wäre wenn … ich dir 5€ in die Hand drücke, von denen du dir kaufen kannst, was immer du möchtest?“ Auf der nächsten Seite gibt es ganz kurze Informationen zu Fotografie, Design und so weiter. Das sollte zur ersten Orientierung reichen. Dann kommen schon die Fotos der Portraitierten, des Kassenbons und der Dinge, die sie gekauft haben.

„Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich einen Prolog schreiben sollte. Aber ich habe mich dann für den Epilog entschieden, um eben nicht zu viel vorwegzunehmen.“ Leonard Müller


Wie haben die Menschen, die Du angesprochen hast, bei Deinem Projekt mitzumachen, im ersten Moment reagiert?

L.M.: Die Leute waren in dem Moment, in dem ich sie zu meinem Projekt eingeladen habe, sehr überrascht. Ich hatte insgesamt mehr Zurückhaltung erwartet. Aber alle meine Gesprächspartner haben schnell Vertrauen gefasst.

Wohnungslose habe ich spontan auf der Straße angesprochen. Wir haben uns hingesetzt und geredet. Wenn es gepasst hat, sind wir zusammen losgezogen. Bei anderen war es so, dass wir uns vorher verabredet und uns in der Stadt getroffen haben. Zum Beispiel erst in einem Café unser Gespräch geführt haben und dann losgezogen sind. Ich wurde auch schon mal in die Wohnung eingeladen. Es war sehr unterschiedlich.

„Die Leute haben mir oft in mehreren Stunden sehr persönliche und sehr emotionale Sachen erzählt.“ Leonard Müller


Mich haben die Bilder neugierig auf die Menschen darin gemacht. Will man nicht mehr über die tatsächliche Geschichte der Personen erfahren?

L.M.: Ich hatte ursprünglich die Idee, Geschichten zu jeder Person zu schreiben und habe jedes Gespräch aufgezeichnet. Davon bin ich aber wieder abgekommen, weil ich das zu viel und zu konkret fand.

Ich wünsche mir, dass die Frage nach den Hintergründen ein Impuls für den Leser ist, in der wirklichen Welt mehr auf andere Menschen zu achten und sich mit verschiedenen Lebensentwürfen zu beschäftigen. Vielleicht bringt das auch mehr Menschlichkeit und Menschenliebe in den Alltag.


Haben viele NEIN gesagt?

L.M.: Von vornherein nein gesagt, hat niemand. Erst nachdem ich die Fotos gezeigt hatte, haben einzelne abgesagt, weil es ihnen doch zu persönlich war. Von den insgesamt 18 Portraits haben 15 den Weg ins Buch gefunden.


Im Buch ist sehr wenig Text. Sagt für Dich wirklich jedes Bild mehr als 1000 Worte?

L.M.: Nicht automatisch, nein. Es kommt auf das Bild an und es kommt auf die Worte an. Es muss auch nicht jedes Foto ein grandioses Foto sein. Mir war das Zusammenspiel wichtig. Durch die Zitate und Bilder wollte ich eine Stimmung vermitteln. Denn wenn ich das Buch lese und dabei in eine Stimmung eintauche, in der der Protagonist und er Fotograf waren, dann bringt mich das selber in diese Situation und gibt einen Denkanstoß.


In Deinem Buch beweist Du Mut zur Lücke. Wie viele Details braucht eine gute Geschichte für Dich?

L.M.: Ich finde, man muss nicht die Person in allen Facetten kennenlernen. Diese 5-Euro-Kaufentscheidung, hängt auch nicht unbedingt vom ganzen bisherigen Leben ab. Das ist vielleicht auch nur eine momentane Stimmung. Erika zum Beispiel hatte einfach Lust auf ein Radler und eine Pizza. Jede dieser Kaufentscheidungen hängt mit einem bestimmten Gedanken zusammen. Ein Obdachloser hat oft schon unglaublich viel erlebt, trifft aber eine sehr kurzlebige, spontane Entscheidung für etwas, das er gerade in diesem Moment braucht. Nelly dagegen, die junge Schülerin überlegt sehr lange, versucht eine philosophische Entscheidung zu treffen und kauft dann ein Freundschaftsarmband, das deutlich langlebiger ist und Symbolkraft hat. Das alles sagt bereits einiges über die Biografien der Personen aus.

„Es ist spannend zu beobachten, wie die Menschen Aufgrund von Erfahrungen und Persönlichkeitsbildung ganz unterschiedlich über die Sache nachdenken.“ Leonard Müller


Warum hast Du Deinen Gesprächspartnern eine Einwegkamera in die Hand gedrückt?

L.M.: Ich habe vier von den Portraitierten eine Einwegkamera gegeben. Der Hintergedanke dabei war, dass die farbigen Bilder quasi den Alltag der Person erhellen. Ich sehe also nicht nur, welche Produkte sie sich kaufen, ich sehe auch, was ihnen in ihrem Alltag wichtig ist.

Der erste war Jörg. In seinem tristen und Drogen-durchtränkten Alltag, fallen ihm Details auf, die er wunderschön findet. Wenn er durch die Stadt läuft, um betteln zu gehen, sieht er zum Beispiel den Himmel. Das sind dann seine kleinen Lichtblicke im Leben. Manchmal war es etwas schwierig, die Kameras wieder zurückzubekommen. Jörg war zum Beispiel nach ein paar Tagen auf einmal nicht mehr an seinen üblichen Orten auffindbar. Aber ich habe ihn – mit Kamera – über Obdachloseneinrichtungen wiedergefunden.


Was hast Du als nächstes vor?

L.M.: Ich arbeite momentan an einem Projekt, bei dem es um Herzen geht – das Organ als Mittelpunkt unseres Lebens und gleichzeitig als symbolischer Ursprung von Gefühlen. Das Ganze wird dann im Laufe des Jahres als Klamotten-Kollektion veröffentlicht werden.


Leonard Müller fotografierte für „Was wäre wenn …“ mit einer Canon 1000F, die er von seinem Vater bekommen hatte.

Leonard Müller fotografierte für „Was wäre wenn …“ mit einer Canon 1000F, die er von seinem Vater bekommen hatte.

Leonard Müller lebt und arbeitet in Hannover als Fotograf und Videojournalist. Er begann vor etwa acht Jahren mit digitaler Fotografie zu arbeiten, entdeckte aber bald seine Liebe zur Analogfotografie. Für „Was wäre wenn …“ entschied er sich für analoge Schwarzweiß-Fotos. In die Canon-Kleinbildkamera legte er den leicht körnigen Ilford HP5+ Negativfilm ein. Zusätzlich machte er Sofortbilder. Leonard ist „Lomo-Amigo“, das heißt, er ist Partner von Lomography und wurde mit der Lomography Instant White, Sofortbildmaterial und Berichten über seine Arbeit am Buch unterstützt.

www.leonardmueller.de


Infos zum Buch

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Was wäre wenn …
Von Leonard Müller
Self-published
1. Auflage, 225 Stück, Dezember 2019
Softcover, 200 Seiten, 21 x 28 cm, Deutsch

Leonard Müller bietet sein Buch exklusiv für unsere Leser für 29 Euro inklusive Versand an. Mit dem Stichwort Seventytwo können Sie „Was wäre wenn …“ direkt bei Leonard Müller bestellen kontakt@leonardmueller.de

 

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